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EuGH-Urteil zum Begriff der „vorübergehenden“ Arbeitnehmerüberlassung

Arbeitnehmerüberlassung

Arbeitnehmerüberlassung:

Wie lange gilt eigentlich „vorübergehend“?

Einleitung

Die Arbeitnehmerüberlassung, oder auch Leiharbeit oder Zeitarbeit genannt, ist eine äußerst kontrovers diskutierte Form der Personaldienstleistung. Die einen nennen sie „moderne, flexible Beschäftigungsform“ die anderen reden von „modernem Sklavenhandel“. Der wohl hartnäckigste Vorwurf liegt in ihrer Instrumentalisierung zum Zwecke des Lohndumpings und dass sich Firmen, die Leiharbeiter beschäftigen, ihrer eigentlichen Arbeitgeberpflichten entziehen.

Das entscheidende Wort bei der Arbeitnehmerüberlassung ist „vorübergehend“. Und genau dieser Begriff ist nicht eindeutig definiert. Weil es seitens des EuGH bislang keine Bewertung dazu gab, begrenzte der nationale Gesetzgeber die Höchstüberlassungsdauer auf 18 Monate. Weil es aber erneut Streit um die rechtliche Bewertung des Begriffs „vorübergehend“ gab, lag es nun am EuGH, die Rechtslage zu klären.

Am 17. März 2022 verkündete er schließlich sein Urteil (C-232/20).

Sachverhalt

Im zugrundeliegenden Sachverhalt geht es um die Klage eines Leiharbeitnehmers gegen die Daimler AG. Der Kläger forderte die Feststellung über das Bestehen eines festen (unbefristeten) Arbeitsverhältnisses, da seine Leiharbeitnehmerstellung nicht mehr als vorübergehend einzustufen sei.

Seit dem 01.09.2014 war der Kläger bei einem Leihunternehmen beschäftigt und von da an bis zum 31.05.2019 an die Daimler AG entliehen worden. Der Zeitraum wurde lediglich für eine zweimonatige Elternzeit unterbrochen. Insgesamt wurde der Kläger also für 55 Monate entliehen.

Der Kläger arbeitete im Bereich der Motorenfertigung. Für Daimler gilt eine Gesamtbetriebsvereinbarung, welche u.a. den Einsatz von Leiharbeitnehmern regelt. In dieser heißt es, dass ein Leiharbeitnehmer in das Unternehmen eintreten kann, sofern ein Vorgesetzter dies bei Erfüllung zusätzlicher Bedingungen beantragt.

Nach einer gesetzlichen Veränderung am 20.09.2017 wurde diese Gesamtbetriebsvereinbarung um den Zusatz ergänzt, dass Leiharbeitnehmer max. 36 Monate eingesetzt werden dürfen, für die Berechnung der Höchstdauer jedoch werden gem. § 19 Abs. 2 AÜG nur Einsatzzeiten ab dem 01.04.2017 berücksichtigt. Damit war die Daimler AG als Beklagte der Ansicht, dass keine Überschreitung der Höchstüberlassungsdauer vorliegt.

Das Arbeitsgericht Berlin (v. 08.10.2019 – 8 Ca 7829/19) wies die Klage des Leiharbeitnehmers ab. Das Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg (v. 13.05.2020 – 15 Sa 1991/19) legte hingegen im Rahmen der Berufung mehrere Fragen dem EuGH zur Vorabentscheidung vor. Insbesondere ging es um die Klärung des Begriffs vorübergehend.

Wann reden wir allgemein von Arbeitnehmerüberlassung?

Von Arbeitnehmerüberlassung wird gesprochen, wenn ein selbständiger Unternehmer wie z.B. eine Zeitarbeitsfirma (Verleiher) einen Arbeitnehmer, z.B. Herrn Müller (Leiharbeitnehmer) vorübergehend an einen anderen Unternehmer, wie hier die Daimler AG (Entleiher), verleiht (im Gegensatz zur Leihe des BGB jedoch gegen Entgelt).

Um überhaupt entliehen werden zu dürfen, muss dies in einem Arbeitsvertrag zwischen Verleiher und Leiharbeitnehmer geregelt sein, der auch während der Leihe fortbesteht.

Jedoch unterliegt der Leiharbeitnehmer während der Überlassung den arbeitsrechtlichen Weisungen des Entleihers. Herr Müller hat zwar einen Arbeitsvertrag mit der Zeitarbeitsfirma, muss sich jedoch an die Anweisungen von Daimler halten.

Zwischen dem Verleiher und Entleiher wird ebenfalls ein Vertragsverhältnis geschlossen, der sog. Arbeitnehmerüberlassungsvertrag. In ihm muss benannt werden, für welche Tätigkeit Herr Müller als Leiharbeitsnehmer vorgesehen ist und welches Gehalt er dafür bezieht. Diese Konditionen jedoch dürfen im Sinne der Gleichstellung gem. § 8 AÜG nicht von den wesentlichen Arbeitsbedingungen vergleichbarer Arbeitnehmer abweichen.

Eine Überlassung von Arbeitnehmern ist nur „vorübergehend“ möglich. Gemäß § 1 Abs. 1b S.1 AÜG darf die Überlassungsdauer 18 Monate nicht überschreiten. Allerdings gibt es Ausnahmen von dieser zeitlichen Begrenzung.

  • Durch tarifvertragliche Regelungen können auch längere Überlassungszeiträume vereinbart werden (§ 1 Abs. 1b S.3 AÜG).
  • Überlassungszeiträume vor dem 01.04.2017 sind nicht zu berücksichtigen (§ 19 Abs. 2 AÜG), was eine Einschränkung bei der Berechnung des Überlassungszeitraums gem. § 1 Abs. 1b S.1 darstellt.

Welche Fragen hatte der EuGH nun zu klären und wie antwortete er darauf?

1.) Ist die Überlassung eines Leiharbeitnehmers an ein entleihendes Unternehmen schon dann nicht mehr als „vorübergehend“ im Sinne des Art. 1 der Leiharbeitsrichtlinie anzusehen, wenn die Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz erfolgt, der dauerhaft vorhanden ist und der nicht vertretungsweise besetzt wird?

EuGH: Wenn ein Leiharbeitnehmer beschäftigt wird, ist das nicht arbeitsplatzbezogen zu verstehen, sondern allgemein. Daher können auch sog. Dauerarbeitsplätze beim Entleiher durch Leiharbeitnehmer besetzt werden, sofern diese wiederum nur vorübergehend tätig sind.

2.) Ist die Überlassung eines Leiharbeitnehmers während einer Zeitspanne von 55 Monaten als nicht mehr „vorübergehend“ im Sinne von Art. 1 der Richtlinie 2008/104 anzusehen?

EuGH: Auch eine Überlassungsdauer von 55 Monaten kann trotz dieses langen Zeitraums eine vorübergehende Überlassung darstellen. Erst, wenn aufeinanderfolgende Überlassungen auf demselben Arbeitsplatz erfolgen und die Beschäftigungsdauer länger ist als das, was vernünftigerweise als vorübergehend betrachtet werden kann, könne ein rechtmissbräuchlicher Einsatz angenommen werden.

Für den Fall, dass die erste oder die zweite Vorlagefrage bejaht wird:

3.) Besteht für den Leiharbeitnehmer ein Anspruch auf Begründung eines Arbeitsverhältnisses mit dem entleihenden Unternehmen, auch wenn das nationale Recht eine solche Sanktion vor dem 1. April 2017 nicht vorsieht?

EuGH: Leiharbeitnehmer haben keinen Anspruch auf ein festes Arbeitsverhältnis, sollte die Überlassung doch nicht als „vorübergehend“ eingestuft werden (Art. 10 I RL 2008/104/EG).

4.) Verstößt eine nationale Regelung wie § 19 Abs. 2 AÜG dann gegen Art. 1 der Richtlinie 2008/104, wenn sie erstmals ab dem 1. April 2017 eine individuelle Überlassungshöchstdauer von 18 Monaten vorschreibt, vorangegangene Zeiten der Überlassung aber ausdrücklich unberücksichtigt lässt, wenn bei Berücksichtigung der vorangegangenen Zeiten die Überlassung als nicht mehr vorübergehend zu qualifizieren wäre?

Dass Einsatzzeiten vor dem 01.04.2017 in der Berechnung der Höchstüberlassung ausgeschlossen werden, sieht der EuGH kritisch. Jedoch überlässt er die Beurteilung im konkreten Einzelfall den nationalen Gerichten. Nach Ansicht des Gerichtshofs könne der nationale Gesetzgeber aber nicht die Festlegung der Überlassungsdauer vornehmen und gleichzeitig den Berechnungszeitraum beschränken.

5.) Kann die Ausdehnung der individuellen Überlassungshöchstdauer den Tarifvertragsparteien überlassen werden? Falls dies bejaht wird: Gilt dies auch für Tarifvertragsparteien, die nicht für das Arbeitsverhältnis des betroffenen Leiharbeitnehmers, sondern für die Branche des entleihenden Unternehmens zuständig sind?

Schließlich sieht der EuGH kein Hindernis darin, dass die Tarifvertragsparteien die Höchstüberlassungsdauer regeln. Dieser Vorgehensweise stehe das Unionsrecht nicht entgegen.

Fazit

Nach wie vor ist nicht klar definiert, was denn nun konkret „vorübergehend“ bedeutet. Stattdessen gibt der EuGH vage Auslegungshilfen vor und überlässt die Beantwortung den nationalen Gerichten.

Zudem hat der EuGH die Entscheidung an das LAG zurückgewiesen und somit bleibt das endgültige Ergebnis noch abzuwarten. Voraussichtlich wird sich auch noch das Bundesarbeitsgericht mit der Beantwortung der Frage beschäftigen müssen.

Für die Arbeitgeberseite sind das erfreuliche Nachrichten: Sie können weiterhin den Spielraum zur Auslegung der Höchstüberlassungsdauer dehnen und legitimieren, insbesondere durch tarifrechtliche Regelungen.

Der Verlierer dieses Urteils ist ganz klar der Leiharbeitnehmer, dessen Rechte individuell vom Arbeitgeber und den nationalen Gerichten abhängen, nicht aber von einer für alle geltenden klaren Ansage von ganz oben.

Wir halten Sie hier auf dem Laufenden.

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